Lesbische Berliner Subkulturorte im Kaiserreich um 1910


Ausschnitt Schulatlas Berlin 1910
Ausschnitt Schulatlas Berlin 1910


Lesbische Subkulturorte im Kaiserreich um 1910 (alphabetisch)1

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1) Augsburger Straße, Schöneberg/Charlottenburg2
gemischtes Publikum bei der Wirtin "Gubarry", 1910 und früher3

2) Bernburger Straße 22a, Berliner Philharmonie, Mitte
Kostümfeste des "Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen" mind. 1900, 1906-1907, ohne Männer, "daß auf diesen Künstlerinnenfesten ein ungeheurer Prozentsatz aller Anwesenden homosexuellen Neigungen fröhnt" (sic)4

Gegend um den Nollendorfplatz, Postkarte, um 1907
Gegend um den Nollendorfplatz, Postkarte, um 1907

3) Bülowstraße 2, "Restaurant Nollendorfplatz", Schöneberg
Treffpunkt der "Neuen Damengemeinschaft" Ende 19085

4) Bülowstraße 27, "Bülow-Casino", Schöneberg
Bülow-Casino Wein-Vertriebsgesellschaft mit beschränkter Haftung, Geschäftsführerin: Helene Diller, Gesellschafterinnen: Helene Diller und Käthe Bloch6, 1910-1912

5) Corneliusstraße 5, "Kasino des Künstlerheims", 1910, Mitte7

6) Friedrichstraße 153a II, "Pensionat für In- und Ausländer", Inh. Helene Diller und Käthe Bloch, mind. 1905-1912, Mitte8

7) Frobenstraße, Schöneberg
Treffpunkt der "Neuen Damengemeinschaft" 1910/19119

8) Kleiststraße 40, Charlottenburg
"Piccadilly", gemischtes Publikum10

9) Kleiststraße 41, "Nollendorfkasino", Charlottenburg
Einer der Treffpunkte der "Neuen Damengemeinschaft" 190911

10) Kochstraße, Mitte
gemischt?12

11) Lutherstraße, Charlottenburg
Lesben*treffpunkt: "eine neue Stätte für ungestörte Zusammenkünfte"13

12) Möckernstraße, Mitte/Schöneberg/Tempelhof
Ballfest im Januar 1911, "bei dem alle Stammgäste der Homosexuellenlokale anwesend waren"14

Anzeige für das Lokal 'Mikado'
Anzeige in "Neue Freundschaft", Nr. 1, 1928:
Das Lokal 'Mikado' befand sich 1928
noch immer in der Puttkamer Straße 15
© UB der HU zu Berlin, Historische
Sammlungen: Kg 1252: F4

13) Moritzplatz, Mitte
"‚Damen-Kegelklub' mit Homosexualitätsprinzip" (sic)15

14) Potsdamer Straße, Mitte/Schöneberg
Einer der Treffpunkte der "Neuen Damengemeinschaft"16

15) Puttkamerstraße 15, "Mikado", Mitte
"es verkehren dort auch einige homosexuelle Frauen"17

16) Schöneberger Ufer 25, Restaurant "Como", Schöneberg
Inhaberin Alma Wolter-Dalbelli: Die "Neue Damengemeinschaft" hat "eine Art Fortsetzung im Lokal ‚Como'"18

17) Schützenstraße, Mitte
"ein Lokal, in welchem vornehmlich das weibliche Urningtum verkehrte"19

18) Taubenstraße 8, Mitte
Lokal von Anna Oberg: "Fortsetzung" und Treffpunkt der "Neuen Damengemeinschaft" 191220

19) Zimmerstraße 58, Mitte
Bierverlag von Anna Oberg mit gemischtem Publikum: Möglicherweise das gleiche Lokal, nur an einem anderen Ort, also auch ein Treffpunkt der "Neuen Damengemeinschaft"?21


Die Liste mit Zuordnung auf dem historischen Stadtplan bildet in den Quellen erwähnte Subkulturorte ab, an denen sich ausschließlich oder überwiegend Lesben* trafen oder denen ein geschlechtergemischtes Publikum zugeschrieben wird. Die genannten Örtlichkeiten wurden – soweit möglich – mit den Berliner Adressbüchern von 1908 bis 1913 abgeglichen. Manche Subkulturorte sind nur einer Straße oder einem Viertel, nicht aber einer genauen Adresse zuzuordnen.

Folgende Angaben wurden nicht in die Karte aufgenommen, weil die Informationen dafür zu unspezifisch sind oder keinen öffentlichen oder halböffentlichen Treffpunkt benennen:

_Bayerisches Viertel
... "es ist geradezu ein Schimpf, wie hier ein ganzes Stadtviertel allmählich zum Ghetto für homosexuelle Frauen wird", besonders Damen "vom Bau", also vom Theater, um 191022

_Friedrichstraße 165, "Chat Noir", Mitte
Auftritt von Wally Sch. und Claire Waldoff, 191023

_"Highlife-Kasino", gemischtes Publikum, 1910?24

_"Klub Lohengrin" rund um den Weinhändler "Die Königin", Treffpunkt für homosexuelle Damenkegelklubs, 1910er Jahre?25

_Königgrätzer Straße 15/16 u. Köthener Straße 1-4, "Piccadilly", Konzert-Café u. Restaurant, um 191226

_Krumme Lanke: Treffen des Damenkegelklubs "Goldene Kugel", 191027

_Motzstraße 47: privater Treff von Margarete G., 190828

_Nikolsburger Straße, Nähe Lützowstraße, um 191029

_Potsdamer Brücke, Nähe, um 191030


Zur Bülowstraße

Erinnerungstafel vor der Bülowstraße 37
Erinnerungstafel vor der Bülowstraße 37

Offenbar war der Teil der Bülowstraße zwischen 27 und 41 ein für subkulturelle Lokale beliebter Ort. Nicht nur das Bloch-Diller'sche "Bülow-Casino" befand sich von etwa 1910 bis 1912/13 hier, sondern später auch ein "Sport-Casino" (1920)31 – und unter der Nummer 31, also ganz in der Nähe, der "Nationalhof",32 der von Selli Engler und Lotte Hahm für ihre Klubabende genutzt wurde. Die Nr. 31 scheint nach histomapberlin.de mit der heutigen Adresse und dem heutigen Bau nicht identisch zu sein. Im gleichen Jahr wird der "Nationalhof" für die Bülowstraße 37 beworben – u. a. für den Damenklub "Altes Geld".33 Immer wieder siedelten sich hier in der Gegend subkulturelle Treffpunkte und Lokale an.
1929 gab es übrigens erneut – oder immer noch im Hintergrund? – ein "Bülowcasino", und zwar in der Bülowstraße 4134 – mehr zur Lutherkirche hin, im Bogen um die Kirche. Es zog offenbar häufiger um: 1927 wurde für das "Bülow-Kasino" im "Nationalhof", also in der Bülowstraße 37, geworben.35 1929 befand sich in der Bülowstraße 57 das "Dorian Gray", der "Treffpunkt unserer Damen".36 Nach der Angabe von Kulturring Rosa Winkel war in der Bülowstraße 6 seit 1907 das "Kleist-Café".37


Zur Friedrichstraße

Blick in die Friedrichstraße um 1910
Blick in die Friedrichstraße um 1910, Postkarte

Die Friedrichstraße verläuft von Nord nach Süd; viele Theater und Cafés waren hier ansässig. Der Bereich Ecke Friedrichstraße und Unter den Linden galt als "stark frequentierter Ort der Straßenprostitution".38

Dieser Knotenpunkt scheint in den 1910er Jahren ein Synonym für einen Ort in Berlin, an dem sich nachts Zuhälter und Sex-Arbeitende aufhalten, war also zeitgenössisch ein Ort für als suspekt konstruierte Personen: "männliches Erpressergesindel".39

Allerdings befindet sich zwischen 1910 und 1912 auch die von Frauen geführte Pension (Helene Diller und Käthe Bloch) in der Friedrichstraße (153a).




Ingeborg Boxhammer und Christiane Leidinger (Bonn/Berlin/Düsseldorf 12/2020)

Zitiervorschlag:
Ingeborg Boxhammer/Christiane Leidinger: Lesbische Berliner Subkulturorte im Kaiserreich um 1910 (31.12.2020). Available from: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane. URL https://www.lesbengeschichte.org/subk_treffpunkte_d.html [cited DATE].






1 Ausschnitt aus dem "Schulplan von Berlin". Beilage im Schulatlas, Verlag von B. G. Teubner (Theodor Hofmann), Leipzig, Berlin 1910.


2 Bezirkszuordnungen wurden nach den Angaben in den zeitgenössischen Adressbüchern vorgenommen; sie entsprechen selten den späteren Einteilungen.


3 Back 1910: 863. "Gubarry" könnte ein Wortspiel sein: mit einem Eigennamen und der Comtesse du Barry (1743-1793), der Mätresse des französischen Königs Ludwigs XV. (1710-1774). – 1910 war unter Augsburger Straße 36 eine Gastwirtschaft eingetragen; der Wirt hieß 1909 Franz Ba(a)der (1856-1909). Nach seinem Tod führte die Witwe Pauline Baader (geb. Parnitzke (geb. 5.1.1854 in Charlottenburg) bis 1911 die Wirtschaft weiter (Sterbeurkunde Franz Baader, Berlin-Lichterfelde 1909; Heiratsregister Charlottenburg 1883; ancestry.de, 29.11.2020); dann war 1912 A. Fonfarra (oder Fonfaira) Gastwirt oder Gastwirtin; ab 1913 ist Anna Menz mit "Bier-Versand" eingetragen, Adressbuch Berlin 1910; 1911; 1912; 1913. Anmerkung: Das Adressbuch Berlin 1908 ist leider unleserlich gescannt. Später befand sich an dieser Stelle das "Maenz Bierhaus" der Wirtin Änne Maenz [d. i. lt. Berliner Adressbuch Anna Menz], vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Augsburger_Stra%C3%9Fe_(Berlin), letzter Abruf 29.11.2020.


4 Die Große Glocke, 30.10.1907.


5 Die Große Glocke, 28.4.1909. – Etwa bis 1908 hieß das in der Bülowstraße 2 ansässige Lokal "Rest. Nollendorf-Platz", dann "Café u. Restaurant Nollendorfhof", Adressbücher Berlin 1906-1909.


6 Deutscher Reichsanzeiger, 13.9.1910.


7 Das "Kasino des Künstlerheims" in der Corneliusstraße soll der Vorläufer vom "Bülow-Casino" gewesen sein, Die Große Glocke, 16.2.1910.


8 Berliner Lokal-Anzeiger, 1.6.1912. – Adressbücher Berlin.


9 Auch in einem Lokal in der Frobenstraße soll sich die "Neue Damengemeinschaft" getroffen haben, Sexualreform, Sept 1912.


10 Back 1910: 863; Adressbuch Berlin 1913: das "Piccadilly-Kasino" von William Wroz befindet sich in der Kleiststraße 40; 1913 auch als "Piccadillybar".


11 Die Große Glocke, 20.1.1909.


12Die Große Glocke, 20.12.1909.


13 Die Große Glocke, 22.6.1910


14 Die Große Glocke, 1.2.1909.


15 Die Große Glocke, 21.12.1910.


16 Die Große Glocke, 20.1.1909.


17 Back 1910: 862.


18 Die Fackel, 18.5.1912. – Adressbuch Berlin 1912. – Dobler 2008: 392.


19 Back 1910: 861.


20 Die Fackel, 18.5.1912. – Back: 1910: 862. – Berliner Börsen-Zeitung, 12.5.1912.


21 Souterrain lt. Adressbuch Berlin 1911.


22 Die Große Glocke, 15.5.1910.


23 Informationen zu einem LSBTI-Publikum oder -Künstlerinnen* sind nicht überliefert.


24 Nicht über Adressbuch etc. zuzuordnen, Back 1910: 863.


25 Hirschfeld 1914: 678.


26 Inhaber war Heinrich Braun, Adressbuch Berlin 1912. – Das hier ist das "Café Piccadilly", das später in "Kaffee Vaterland" umbenannt wurde, 2.500 Plätze (womöglich ist bei Back das "Haus Vaterland" gemeint, Back 1910: 863).


27 Welt am Montag, 29.8.1910.


28 Die Große Glocke, 15.4.1908.


29 Back 1910: 863.


30 Hier könnte auch das Lokal "Como" am Schöneberger Ufer 25 gemeint sein, das sich in der Nähe der Potsdamer Brücke befand, vgl. Back 1910: 863.


32 Der "Nationalhof" ist hier von 1920 bis 1947 belegt. https://www.rosawinkel.kulturring.berlin/?treffpunkt=schoeneberg, letzter Abruf 23.10.2020.


33 Die Freundin, 7.8.1929, Nr. 6.


34 Die Freundin, 11.12.1929.


35 Frauenliebe/Liebende Frauen, 1927, Nr. 25.


36 Die Freundin, 7.8.1929, Nr. 6.


38 Vgl. Lücke, Martin (2008): Männlichkeit in Unordnung: Homosexualität und männliche Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik. Frankfurt/Main, New York: Campus (Reihe "Geschichte und Geschlechter", 58), S. 103.


39 Die Große Glocke, 30.10.1907.



Dieser Beitrag ist entstanden im Rahmen des Mikroforschungsprojektes
"Diskriminierende Angriffe und offensive Abwehr – Eine Geschichte der Selbstorganisierung ‚Neue Damengemeinschaft' und ihrer selbstbewussten Akteurinnen* in Berlin um 1900"
Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Laufzeit: 10/2020-12/2020
Gefördert von: Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung zur Forschungsförderung von Mikroprojekten, Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung

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